Ein Sommertag in Schlicktown

  • Was tut man mit einem Pfingstmontag ohne Korrekturen auf dem Schreibtisch und den nächsten erst für den Folgetag in Aussicht stehend? Oh ja, man könnte doch Fernsehen und sich über ewige Wiederholungen ärgern bzw. sich zum "Tennisdaumen" zappen... Hm :hmm: Keine gute Idee. Oder doch den ganzen Tag auf den Bildschirm starren, Änderungen im Forum verfolgen und ab und an moderatorisch eingreifen... Aber die Fories sind ja lieb und diszipliniert - also auch keine tagesfüllende Idee. Außerdem war das Wetter gut und zu Hause sitze ich ohnehin schon oft genug - also hinaus in die weite Welt. Aber auch nicht zu weit, denn zu Hause ist ja noch was im Kühlschrank... ;)


    Aber zu weit muss ja nicht sein, denn das sprichwörtliche in die Ferne schweifen ist oftmals ja gar nicht nötig, denn im weiteren Umfeld des Exils gibt es noch immer weiße Flecken auf der Landkarte, z.B. Schlicktown, auf Landkarten auch als Wilhelmshaven verzeichnet. Eigentlich ja ein Ort von nicht so prallem Rufe: künstliche Marinestadt, riesiger Stützpunkt, weite Wege in die Kneipe usw. Hamburg und Kiel waren irgendwie immer beliebter. :pardon: Aber da gibt es doch auch das Deutsche Marinemuseum das zusätzlich zur Dauerausstellung mit einer Sonderausstellung zur kaiserlichen Schlachtflotte im Ersten Weltkrieg lockt. Also mal kucken, wie in Deutschland heute die Marine präsentiert wird... Deshalb flugs auf den Weg, noch war es ja kühl und das Auto kein Backofen und bei freien Straßen sind es keine zwei Stunden.


    Geparkt wurde am Südstrand direkt am Anleger des Bäderdampfers nach Helgoland beim Tonnenhof; gebührenpflichtig zwar, aber vier Euro für quasi den ganzen Tag gehen in Ordnung. Von dort kann man sich vorbei am Aquarium auf der anderen Seite des ehemaligen Vorschleusenbeckens auf die sehr angenehm und modern gestaltete Südstrandpromenade einfädeln - wobei "Strand" eigentlich nicht so wirklich passen will, Liegewiese würde die Sache schon eher beschreiben... ;)



    Dort hätte ich mich auch gleich niederlassen können und den "Frühaufstehern" beim Frühstück Gesellschaft leisten können, aber ich hatte ja Ernsthaftes vor - nicht umsonst habe ich den Ruf eines notorischen Museumsgängers. ;) Aber zuerst wollte ich mir ein bisschen Bewegung nach der Autofahrt verschaffen und bin ein Stückchen weiter zur 1905-1907 gebauten Kaiser-Wilhelm-Brücke gelaufen, einer genieteten Standdrehbrücke über den Verbindungshafen.



    Hinter ihr, am inzwischen nicht mehr zum Marinestützpunkt gehörenden, aber immer noch nach dem Kriegsmarine-Kommodore Friedrich Bonte benannten :negative: Bontekai, grüßten der Tonnenleger KAPITÄN MEYER, das erste nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland gebaute Schiff, sowie das 1906/07 gebaute FEUERSCHIFF WESER:



    Auf der anderen Seite steht das seit seiner Stilllegung 1993 trotz Denkmalschutzes dem Verfall preisgegebene Kraftwerk Südzentrale, das ursprünglich für die Stromversorgung des Kaiserlichen Werft errichtet worden ist. Auf dem Giebel des Jugendstilbaus prangt über dem Schriftzug "Südzentrale" noch immer lesbar die Aufschrift "Kaiserliche Werft". Wie ich später noch erfahren sollte, ist das Gebäude inzwischen in einem derart schlechten Zustand, das der Abriss schon beschlossene Sache sein soll... ;(



    Doch nun zum eigentlichen Grund meines Ausflugs, dem Museumsbesuch. :locomotive: Von der Ausstellung selbst habe ich zwar auch reichlich Bilder, stelle die aber hier nicht ein, da bekanntlich auf Ausstellungen auch ein Copyright liegt, deshalb also nur eine Beschreibung. :pardon:


    Untergebracht ist das Deutsche Marinemuseum in einem Gebäude des ehemaligen Scheibenhofs des Marinestützpunkts und bereits von Fernem gut zu erkennen, denn das Außengelände wird von dem Zerstörer MÖLDERS dominiert und schräg über dem Eingangstor ist eine F-104G "Starfighter" der Marineflieger aufgestellt - zum Glück wohlverankert und somit wenig geneigt, auf den prospektiven Museumsbesucher herabzustürzen. :fie:


    Zunächst geht es durch die Dauerausstellung zur Geschichte der deutschen Seestreitkräfte von der Bundesmarine des Paulskirchenparlaments 1848/49 bis zur Gegenwart. Reichlich Modelle, Exponate und alles prima erläutert. Und was mir von Anfang an gut gefallen hat, ist die differenzierte Präsentation und Aufarbeitung der deutschen Marinegeschichte. Eine Glorifizierung vergangener "Heldentaten" findet nicht statt, stattdessen findet eine kritische Auseinandersetzung auch mit dem Selbstverständnis deutscher Seestreitkräfte statt. Das habe ich in deutschen Marineausstellungen und Gedenkstätten auch schon ganz anders erlebt. Erstmals habe ich in Wilhelmshaven in einem solchen Museum kritische Dartsellungen z.B. zum Leistungsvermögen der kaiserlichen Schlachtflotte, der Person Karl Dönitz und eben dem Traditionsverständnis der Bundeswehr in toto erlebt. :imsohappy:In dieses Museum kann man gefahrlos auch mit Schülern gehen, ohne vorher mehrere Stunden Geschichts- und Erinnerungskultur unterrichtet zu haben.


    Auch die Sonderausstellung ist sehenswert aufgebaut und führt den Besucher aus der Perspektive zweier Matrosen durch das Schlachtschiff SMS HELGOLAND während des Ersten Weltkriegs, verdeutlicht die Entwicklung der emotionalen Lage in der Hochseeflotte vom "Augusterlebnis" hin zum Waffenstillstand, thematisiert den Gammelposten in einer fleet-in-being, die kurzen Phasen der Aktivität, soziale Gegensätze zwischen Offiziersmesse und Mannschaftsdeck und die zunehmende Politisierung der Mannschaften, die sich schließlich in der über die Flotte hinausgreifenden Novemberrevolution äußerte. Das Ganze spielt sich quasi zwischen Bug- und Heckzier der HELGOLAND ab, während außen herum ein blaues Band als Zeitleiste verläuft, in der die wesentlichen Kriegsereignisse 1914-18 und der "Krieg der HELGOLAND" zueinander in Beziehung gesetzt werden.


    Aber ich sehe schon, es werden Bilder gefordert, keine Vorträge... :pilot: Gut, auch damit kann ich dienen.
    Wie oben bereits geschrieben, wird das sehr interessante Außengelände von der MÖLDERS dominiert, dem größten Exponat der Ausstellung:



    Es handelt sich dabei um einen in den USA entwickelten und gebauten, aber an deutsche Spezifikationen angepassten Schiffstyp, den die US Navy als CHARLES F. ADAMS-Klasse, die Bundeswehr als Klasse 103 führte. Es handelt sich bei den drei deutschen Einheiten übrigens um die letzten westdeutschen Kriegsschiffe, die komplett im Ausland entwickelt worden sind, was zu einigen interessanten "Anomalien" geführt hat: So fehlt die zur Bauzeit in den europäischen Marinen bereits zum Standard gehörende gasdichte Überdruckzitadelle komplett, und während der ganzen Betriebszeit waren die drei deutschen Zerstörer komplett in die Ersatzteilversorgung der US Navy integriert, d.h. jedes Ersatzteil musste in den Staaten bestellt werden. Auch die Unterbringung der Mannschaftsdienstgrade entspricht den Standards der 1960er US Navy, was z.B. an dem später mehrfach umgebauten "82 Mann-Deck" deutlich wird, der größten Messe in der Geschichte der Bundeswehr. Dagegen erscheint jede Jugendherberge aus der "guten alten Zeit" wie ein Fünfsternehotel!


    An Bord gelangt man vom Achterdeck längs der Steuerbordseite auf die Back



    Danach geht es längs der Backbordseite zurück nach achtern, ein Deck höher und dann auf die Brücke mit der dahinterliegenden Operationszentrale (OPZ):



    Und spätestens auf der Brücke wird einem deutlich, dass es sich bei der MÖLDERS um ein ganz besonderes, ja ein Wunderschiff handelt, um das nicht nur die anderen Seestreitkräfte, sondern jeder Seefahrer die Deutsche Marine schwer beneidet haben muss - denn sie ist das einzige Schiff mit Bremse, das ich je gesehen habe :laugh1:



    Schließlich geht es durch das Schiffsinnere vorbei an den Kammern der Schiffsführung in das bereits angesprochene 82-Mann-Deck, das so eng ist, dass sogar die Weitwinkeleinstellung meines "Rumlaufobjektivs" überfordert war :wacko1: , in den Speisesaal der Mannschaft- und Unteroffiziersdienstgrade.



    Dort sind die Rangunterschiede klein, aber fein ausgedrückt: Während die Mannschaften auf sogenannten "Sitzmaschinen" (die Tische und Sitze sind fest miteinander verbunden, ähnlich wie bei den Schulbänken von anno Dutt) mit rotem Kunststoffbezug sitzen mussten, waren die "Sitzmaschinensitze" der Unteroffiziere mit Stoff bespannt und die Portepeeunteroffiziere haben sogar richtig fürstlich in separater Messe diniert.


    Im Speisesaal wird übrigens auch die Namensgebung der MÖLDERS - und damit das Traditionsverständnis der Bundeswehr im Wandel der Zeit - hervorragend thematisiert. Ursprünglich sollten die Namen LÜTJENS, ROMMEL und MÖLDERS eine Brücke zwischen der Wehrmacht und der Bundeswehr schlagen und Identifikationspotenzial aufbauen. Im Laufe der Jahre wurde dieser Ansatz nach und nach immer kritischer gesehen und die problematischen Verhaltensweisen der drei Zerstörernamensgeber im "Dritten Reich" ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Im Fall der MÖLDERS hätte das fast noch dazu geführt, dass sie hätte umgetauft werden müssen, nachdem der Bundestag beschlossen hatte, dass er zu denjenigen Wehrmachtssoldaten gehört, die für die Traditionsbildung der Bundeswehr nicht geeignet seien.


    Neben der MÖLDERS liegt dann eine wahre Nussschale, das Minenjadgboot WEILHEIM der LINDAU-Klasse.



    Im Vergleich zur MÖLDERS fällt sofort die Gemütlichkeit an Bord auf, da auch im Schiffsinneren sehr viel Holz verbaut worden ist, während auf dem amerikanischen Entwurf Holzteile mit der Lupe gesucht werden müssen. ;)


    Vom offenen Fahrstand aus bietet sich dem geneigten Besucher allerdings ein Anblick, den im wirklichen Leben keine Brückenbesatzung herbeisehnt :8o:



    und tief im Schiffsinneren muss man leider feststellen, das ein "Besatzungsmitglied" bei der Außerdienststellung der WEILHEIM 1995 einfach zurückgelassen worden ist :mosking:



    Das dritte zu besichtigende Schiff ist das Unterseeboot U10 der Klasse 205 - und hier wird es eigentlich gar nicht so eng! OK, Komfort darf der geneigte Besucher nicht erwarten, und eng ist es auch, aber für bequeme Stehhöhe ist fast überall gesorgt - das habe ich auch bei deutlich größeren "Unterseezigarren" schon ganz anders erlebt! Nur der Einstieg sollte wohl überlegt sein und könnte einen Sumoringer durchaus diskriminieren... :doofy:



    Man steigt durch das Vorluk ein und das Achterluk wieder aus. Dabei kommt man durch den Torpedoraum, der fließend in die Unteroffiziers- und Mannschaftsmessen übergeht



    vorbei an den Feldwebel- und Offiziersmessen sowie der Kombüse in die Zentrale



    und schließlich - nach einem Blick in den einzigen Lokus des Bootes -in den Maschinenraum



    und schließlich wieder an das Licht der Sonne.


    An Land stehen neben diversen Waffen- und Ausrüstungssystemen noch zwei weitere Boote, die allerdings nicht besichtigt werden können, nämlich der Schlepper LANGENESS und ein Schnellboot der LIBELLE-Klasse der DDR-Volksmarine.



    So, nun hab ich aber Durst! :beer: Nicht wirklich jetzt, aber an dieser Stelle meines Schlicktown-Besuchs, und den konnte ich auf der Terrasse des Museumscafés effektiv stillen, bevor es auf den letzten Teil des Besuchs ging, die Hafenrundfahrt. Ich hatte mir bei der Ankunft im Museum gleich eine Kombikarte gekauft und so einen Platz auf dem letzten Törn des Tages gesichert - wovon mich die Dame hinter dem Kassentresen mit Engelszungen abbringen wollte. Sie wollte mir einfach nicht glauben, dass ich die Zeit für ihr Museum brauchen würde und mich garantiert nicht ewig langweilen würde, wenn ich so spät führe.


    Nun denn, los gings an Bord der Barkasse NEPTUN. Gut eine Stunde dauert die Fahrt und der Kommentar ist fachkundig und differenziert. Wer jetzt He lücht erwartet, wird also bitter enttäuscht, denn es handelt sich bei den vom Deutschen Marinemuseum angebotenen Rundfahrten um historische Führungen zur See, bei denen der Hafen und seine wechselvolle Geschichte erläutert werden. Ob die konkurrierenden Veranstalter Auschneider und Reißer sind, vermag ich nicht zu beurteilen, aber mir war es recht so, wie ich es getroffen habe. Und übrigens steht nicht nur Grey Funnel Lines auf dem (Kommentar-)Programm. So lagen die Hubinsel THOR und der alte, aber nichtsdestotrotz noch immer fitte Schwimmkran JADE LIFT I im Hafen, ebenso wie die WOHLDORF, ein alter HADAG-Maikäfer vom Typ IIIC und der Schlepper WEGA:



    Von der aktiven Deutschen Marine lagen nur die beiden Einsatzgruppenversorger BERLIN und FRANKFURT AM MAIN innerhalb der Wilhelmshaverner Seeschleusen.



    Wahre Tantalusqualen gab es dann im Marinearsenal zu erleiden, dessen Hafenbecken ebenfalls befahren wurde - und in dem striktes Fotografierverbot herrscht, da es zum militärischen Sicherheitsbereich gehört. Zu sehen waren nämlich reichlich außer Dienst gestellte Einheiten: vier Fregatten der Klasse 122, der Munitionstransporter WESTERWALD, zwei Minenjagd- und zwei Schnellboote. Nur im Nachschuss war ein Bild aus dem öffentlichen Bereich möglich, auf dem der Bug der WESTERWALD und das Heck der Fregatte BREMEN zu erkennen sind. :blush2:



    Übrigens liegt am Ende des Bontekais noch das inzwischen der Marinekameradschaft Wilhelmshaven als Veranstaltungslokal dienende ehemalige Wohnschiff ARCONA, das am Rhein für die Kriegsmarine gebaut wurde und inzwischen über 70 Jahre auf dem Buckel hat.



    Ach ja: Und auch die Kaiser-Wilhelm-Brücke grüßte auf ihre ganz eigene Art. :thumbup:



    Und so endete dann mein Tag in Schlicktown - noch einen Rutsch auf der Autobahn und dann konnte der Alltag wieder kommen...

  • es werden Bilder gefordert, keine Vorträge...


    Die Vorträge sind aber sehr informativ - oder anders ausgedrückt: wer an Wissensdurst leidet kann nicht verdursten :whistle3:

    und hier wird es eigentlich gar nicht so eng


    Das sagst Du - ich bekomme schon Panik, wenn ich die Bilder anschaue. Einmal habe ich so ein Teil besuchen wollen - man gut, dass ganz schnell ne offene Luke kam . Schwupps war ich draußen . Denn sonst :puke:
    Lynghei

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